HERBERT
FRITZ

FOTOGRAFIE

Kapelle im Amari-Becken am Fuß der Psiloritis, Kreta
Steinmännchen-Bau am Strand von Sougia, WestkretaEin orthodoxer Priester überwacht die Erschließung eines Baugrundstücks nahe der kretischen Touristenhochburg  MaliaschlachtKretas Südküste von der Skinaria-Bucht aus bei Plakias

Beim Landeanflug liegt die Insel wie ein riesiger Dreimast-Segler im tiefblauen Meer. Als solchen hat Kretas berümtester Dichter, Níkos Kazantzákis, ihre Geografie treffend beschrieben. Oft bis in den Frühsommer hinein hält sich der Schnee auf den Gipfeln der Zweitausender, die in drei Gebirgsstöcken den 260 Kilometer langen Querriegel zwischen dem europäischen Kontinent und Afrika mit einer weithin sichtbaren Takelage krönen. Kreta ist nicht nur die mit Abstand größte Insel der Ägäis, sie besitzt auch die höchsten Berge. Und die sind gute Wasserspeicher, eine Garantie für Grün und Vegetationsstufen für Entdecker. Die Minoer, heißt es, schaukelten die Wiege Europas. Mitunter wenig zivilisiert suchen dessen Urlauber heute zahlreich die Küsten vor allem im Norden heim. Ich reise bevorzugt in den Südwesten.

Warmes Nest

Loutró im Südwesten Kretas ist ein Ort für Hektik-Flüchter

Von Herbert Fritz

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Warmes Nest

Loutró im Südwesten Kretas ist ein Ort für Hektik-Flüchter

Von Herbert Fritz

Erschienen in Thomas Cook's Reisemagazin und Flyjournal von TUIfly

An einem der ersten Tage im Mai holt Vangélis die dicken Bretter heraus und stapelt sie an der Hauswand neben dem Freiluft-Tresen mit dem leeren Regal und einem halbblinden Spiegel. Dann passiert erst einmal nichts. Aber es ist ein Zeichen, dass es demnächst losgeht. Mindestens einen Tag, eher noch einen weiteren, dauert es, bis Vangélis die Klappstühle aus Holz und Leinen anschleppt, dazu ein paar Bistrotische, und damit bedrohlich den Zugang zum Schiffsanleger versperrt. „Wann machst du auf?“, wird der Bar-Chef an diesen Tagen ständig gefragt, Vangélis, der aussieht wie der junge Orson Welles. Die Antwort ist immer die gleiche: „Bald“.

Einen Tag später, eher zwei, ist plötzlich alles fertig, liegen die dicken Bretter auf den Stahlträgern knapp über dem Wasser, stehen Tische und Stühle auf der glucksenden Plattform und Flaschen im Regal mit dem halbblinden Spiegel. „Welcome“, sagt Vangélis, weil die Touristen kein Griechisch verstehen und er lange in den USA gelebt hat. „Welcome to the most beautiful bar of Crete.“

Leisen Jazz weht das noch etwas kühle Lüftchen von der schönsten Bar Kretas in das Hafenrund, hinüber zu den Tavernen, die sich jeden Tag ein wenig mehr füllen. Willkommen in Loutró. Die Saison ist eröffnet: Ein Zicklein dreht sich ab jetzt jeden Abend im Außengrill des „Kri Kri“. Das „Hotel Porto Loutro“ stellt Sonnenschirme und Liegen in den Kies des zentralen Strändchens vor seiner Tür. Die alte Maria schichtet Eis am Stiel in die Kühltruhe neben ihrem Kiosk. Und Georgios vom „Blue House“ verspachtelt seine Restaurantterrasse, an der die Brecher der Winterstürme genagt haben.

Das „Blue House“ ist eigentlich so weiß wie alle Häuser in Loutró, aber Georgios und sein Bruder Vangélis (der Zweite) waren die Ersten, die Fenster und Türen marineblau angestrichen haben. Die Anderen sind ihrem Beispiel gefolgt. Und das verleiht dem Winznest ein stilvolles Aussehen, fast als habe - ganz unkretisch - jemand auf die Gestaltung eingewirkt.

Loutró ist ein schönes Beispiel dafür, wie der Tourismus ein gestorbenes Dorf zu neuem Leben erweckt. Noch in den siebziger Jahren war der Ort nahezu entvölkert. Nur zu Fuß oder mit dem Boot zu erreichen, wurden die wenigen bewohnten Häuser in den Sommermonaten meist von Fischern genutzt. Beliebt waren die abgelegenen Ruinen freilich bei den Pionieren des Tourismus mit Rucksack und Zelt - schließlich Grundlage für Tavernen und die Vermietung von Privatzimmern, die sich nach und nach vermehrten. Und seit die ehemalige Kunstpädagogin Eike Ende der Siebziger von der Registrierkasse des Dorflädchens ins „Keramós“-Haus von Manólis Patrousakis wechselte, gibt es auch eine Unterkunft mit minoischen Motiven allenthalben an den Wänden, von Eike aus dem Wendland handgemalt.

Etwa zehn Tavernen und ebenso viele Häuser mit Gästezimmern sind in der Bucht am Fuß der Lefká Óri, der Weißen Berge, hingewürfelt. Dazu das besagte Hotel aus zwei getrennten Baueinheiten. Der von Begehrlichkeit gespeiste Plan, Kretas einziges Dorf ohne Straßenanschluss für den Verkehr auf Rädern zu erschließen, ist zumindest vorläufig vom Tisch. Die Fähre hält die Verbindung zum Rest der Welt. Loutró ist ihr Heimathafen.

Im Rhythmus des Fahrplans vergehen hier die Tage. Urlaubstage. Langschläfern dient die Ankerkette der „Daskalogiánnis“ morgens um halb zehn als Wecker, gegen sieben Uhr abends rasselt sie das Nachtgeläut. Dazwischen bringt die Fähre Brot und Tomaten, Möbel und Matratzen, Klopapier und Amstel-Bier. In geringer Anzahl auch Touristen, Tagesausflügler zumeist. Das Gros fährt weiter gen Westen zur Samariá-Schlucht. Oder kommt am Abend aus Europas längster Schlucht. Oft sind es mehrere Hundert mit dem letzten Schiff.

Das ist Loutrós Schnittstelle mit dem großen Tourismus auf Griechenlands größter Insel: Ein Oberdeck voll verschwitzter Urlauber mit einer Digitalkamera in der Hand. Von ihrem Aussichtsplatz, höher als die ans Wasser gebauten Häuser, schauen sie auf Loutró, das sich unter den erstaunten Blicken wegzuducken scheint. Sie sagen „Wie idyllisch“ und „Dass es so etwas auf Kreta gibt.“ Dann dreht das Riesenschiff fast auf der Stelle und stampft nach Osten in die organisierte Ferienwelt. In Chóra Sfakíon warten zwei Dutzend Busse. Sie bringen die Ausflügler in ihre Hotels an der Nordküste zurück.

Bis vor ein paar Jahren klappten die Fährschiffe ihr Maul noch mitten in Loutró auf, direkt zwischen den Badegästen am örtlichen Strand. Weil das irgendwem doch so gefährlich schien, wie es aussah, gibt es jetzt einen neuen Anleger am südlichen Ende der Dorfsichel, unweit Vangélis' Bar. Wenn die „Daskalogiánnis“ nach ihrer letzten Fahrt dort wieder anlegt, stapfen nur noch vereinzelt Passagiere über ihren Unterkiefer aus Stahl. Danach kehrt mediterraner Frieden ein, klingen Gläser in den Tavernen, helles Lachen und von Ferne Ziegenglöckchen. Manchmal fährt noch ein Motorboot, ruft eine Mutter nach Yannis, bellt ein Hund.

Menschen, die nicht die Stille, doch die Ruhe suchen, mögen Loutró. Wanderer ebenso. Seine Lage provoziert Bewegung. Vom Land her drückt der Berg. Ihn zu bezwingen, und sei es auch nur bis zur ersten Ebene vor dem alpinen Aufstieg, ist schweißtreibend bis zum endorphinen Hochgefühl. Leichter gelingt es, nach Osten auszuweichen, berauscht vom Duft der Salbei- und Thymianhänge oberhalb des Küstensaums. Aussichtsreich ist der Pfad im doppelten Sinne. Er mündet in einen Strand mit Süßwasserquellen für den gepflegten Salz-Abwasch nach dem Bade.

Der Weg in den wilden Westen führt über ein ausgedehntes Ruinenfeld der Antike, aus dem der Regen unablässig Scherben und Henkel zerbrochener Gefäße wäscht (nichts mitnehmen! Der Zoll droht mit Gefängnis). Überbaut von einem gut erhaltenen Kastell der Venezianer, breitete sich hier vor 3000 Jahren die Stadt Phönix aus. Deren Terrassen reichen bis nach Loutró mit Jahrhunderte alten Olivenbäumen wie aus einem Steinmetz-Atelier.

Wer seine Schwindelfreiheit erfolgreich testet, wird nach rund einer Wanderstunde mit einem zauberhaften Badeplatz belohnt. Sanft gerundete, weißgelbe Felsen flankieren ein Strändchen, von dem man in ein halbes Dutzend Grotten und Höhlen schwimmen kann. Die „Marmorbucht“ ist der Ausgang der lotrecht eingeschnittenen Arádena-Schlucht.

Seit der Europäische Fernwanderweg E4 diese Preziosen wie an einer Perlenschnur aufreiht, sind zwischen Agía Rouméli und Chóra Sfakíon immer häufiger Wandergruppen unterwegs. Loutró ist dabei bevorzugtes Etappenziel für ein Nachtquartier. Vor allem Franzosen haben Kretas Südküste für den Gänsemarsch entdeckt. An langen Tischen sitzen sie in Evrípidis' Taverne, im „Blue House“ oder beim dicken Stávros, der gut und gern 30 Kilo abgespeckt hat. Der lokale Rotwein fördert bei den Kurzzeit-Gästen mitunter eine ungebührliche Dominanz. Zum Glück halten sie sich nicht lange auf ihren müden Beinen.

Anders als in den heißen Sommernächten gehen in Loutró am Anfang der Saison früh die Lichter aus. Nur bei Vangélis flackern Kerzen auf den Bistrotischen, schauen Pärchen und Alleinreisende ins Glas und in den Sternenhimmel. Ein lauer Wind weht über das Libysche Meer und trägt leise Töne von Jack Johnson in das Hafenrund. Irgendwo bellt ein Hund.

An einem der ersten Tage im Mai...