Auch Greisinnen tragen Schaftstiefel wie Cowboy-Boots: Frauen bestimmen das Bild im Bergnest Olympos im wilden Norden der griechischen Insel Karpathos. Männer spielen kaum eine Rolle, weil es kaum noch Männer gibt. Schlechte Verdienstmöglichkeiten und ein Erbrecht, das die Mädchen bevorzugt, haben ein Jahrhundert lang zu einem Exodus der Stammhalter geführt.
Manchmal, wenn die Frühjahrsstürme toben und das Fährschiff den kleinen Hafen Diafani meidet, schaffen es die Freunde und Verwandten nicht rechtzeitig zum Fest. Dann trauern die Frauen von Olympos in der Kirche laut klagend nicht nur um die vom Kreuz genommene und in Blumen gebettete Christusfigur.
Ostern ist in Griechenland ein Fest der Familie, auch und vor allem in Olympos. Aber die Abgeschiedenheit des Bergnestes im wilden Norden der Insel Karpathos erschwert den Besuch. Vielleicht haben die Bewohner Ostern deswegen um einen Tag verlängert, damit die Verwandtschaft noch eine Chance bekommt.
Spätestens zum Lambri Triti sind sie da, die in den geschäftigen Süden abgewanderten Söhne, die in Athen verheiratete Tochter, der sprichwörtliche Onkel aus Amerika. Während die ganze Nation die Girlanden abhängt und in den Tavernen die Lammknochen zusammenfegt, erreicht eine der prachtvollsten Zeremonien Griechenlands ihren Höhepunkt.
Eine Holperpiste schwingt sich vom Hauptort Pigadia aus kühn durch die zerklüftete Bergwelt, vorbei an einsamen Buchten in der Tiefe, bizarren Kalkfelsen, den spärlichen Beständen von Aleppo-Kiefern und Kermes-Eichen, die von den immer wieder wütenden Flächenbränden auf der einstmals waldreichen Insel verschont geblieben sind. Hinter einer Passhöhe thront Olympos auf einem Kegel, der sich nach der letzten Kurve wie aus Kulissen schiebt: Strahlend weiß, in Türkis, Ocker und hellem Grün, drängen sich die Häuser um eine Kirche an der Spitze. Olympos - pastellfarbenes Traumbild, der gleichnamigen Wohnstatt der Götter würdig, zartes Ensemble im klaren Frühlingslicht.
Auf der ganzen Strecke kaum ein Fahrzeug, und nun stehen zwei Dutzend Autos am Fuß der Terrassenfelder, durch die Maultierpfade nach oben führen. Das Dorf selbst ist so verschachtelt, dass dort motorisierter Verkehr nicht möglich ist. Ein energisch läutendes Glöcklein weist den Weg zum Friedhof, der unterhalb auf einer Anhöhe liegt.
Lambri Triti, das Fest der Lebenden und Toten, hat begonnen. Gefolgt von den Angehörigen, überbringt der Dorfgeistliche den Verstorbenen die Botschaft von der Auferstehung Christi, dazu gute Wünsche und Mitteilungen, die ihm die Familie - in einen Geldschein eingerollt - auf Zettelchen zusteckt.
Die Szene ist von betörender Fremdheit und wie alles in Olympos von den Frauen dominiert. Einer höfischen Gesellschaft des Mittelalters gleich, zieht die überwiegend weibliche Gemeinde mit dem Popen von Grab zu Grab: in langen, leuchtenden Gewändern, plissierten Seidenröcken, Brokatumhängen und paillettenbesetzten Tüchern. Die Trachten der Frauen von Olympos gelten als die prächtigsten der griechischen Inselwelt.
„Christos anesti“, Christus ist auferstanden, murmelt der Pope zum wiederholten Mal. „Alisos anesti“, ja, er ist wahrhaftig auferstanden, antwortet sein Gefolge. Weihrauch weht über die frisch getünchten, blau und gelb verzierten Gräber. Die gemauerten Ruhestätten haben die Frauen mit Blumenkränzen behängt und darauf Körbe voll Süßigkeiten und Kringeln mit eingebackenen, gefärbten Eiern gestellt.
Nach einer Stunde bricht ein Teil der Gläubigen - wie bereits am Ostersonntag - erneut zu einer Prozession durch die umliegenden Felder auf: an der Spitze die Fahnen des Staates und der Kirche, dann vier ausladende Ikonen, von kräftigen Burschen über den Köpfen getragen, danach der Pope, die Farbtupfer der Frauen und eine Handvoll Männer, meist ehemalige Bewohner, die am Lambri Triti zu Besuch gekommen sind. Ziel der von Gebeten um Regen und Fruchtbarkeit begleiteten Wanderung sind einige der zahlreichen Kapellen, die ihre Existenz vornehmlich den Spendengeldern der Auswanderer verdanken. Nach mehr als einer Woche der Osterfeiern ist die Gruppe in der Landschaft freilich dezimiert. Die Mehrzahl erwartet die religiösen Ausflügler auf dem Dorfplatz und strebt den höhergelegenen Häusern zu.
Dort herrscht Leben in den steilen Gassen. Die angereisten Gäste sitzend schwatzend vor den mit Olivenzweigen geschmückten Häusern. Die Kafeneions, politisch streng nach recht und links getrennt, können die palavernde Männlichkeit kaum fassen. Im Gewirr der Durchgänge und Treppen springen die Mädchen in ihren golddurchwirkten Festtagskleidern wie Kirmesbälle umher.
Olympos ist ein harmonischer Wildwuchs von Formen, ein luftiger Aufbau mit klaren Linien und Schlupflöchern, griechische Funktionalität mit orientalischer Verspieltheit gepaart. Nymphen und Engel schauen von den Fassaden, die „Pfauen des ewigen Lebens“ hüten Tür und Tor, byzantinische Doppeladler und venezianische Löwen zieren Simse und Balustraden. Nirgendwo sonst auf dem Dodekanes findet man Reliefs in dieser Fülle.
Olympos ist eine Insel auf der Insel, ein aus der Zeit gefallenes Stück Griechenland, wenngleich durch die Emigranten auch von ihr gestreift. Die Galerien der Bildchen in den fast pompösen Wohnstuben, die Sammlungen der Mitbringsel, zeichnen Lebenswege über den ganzen Erdball nach. Vom Weltgeschehen bleibt der Ort dennoch seltsam unberührt. Zum Schutz vor Dämonen binden die Mütter ihren Babys noch immer ein Beutelchen aufs linke Schulterblatt. Es enthält meist einen Fetzen vom Gewand des Bischofs, abgebrochene Nähnadeln, schwarzen Thymian, Maschen eines Fischernetzes sowie ein Stück von der Nabelschnur. Das Brot wird hier noch in freistehenden Steinöfen gebacken, an denen jeder Passant einen Brocken in die Hand bekommt. Die gute Tat soll die Geister der Ahnen bei Laune halten, die man bei der Befeuerung der „Furni“ zugegen wähnt.
Der stärkste Eindruck aber sind die Frauen. Auf den Stufen der 500 Jahre alten Kirche, auf den umliegenden Dächern, in den Hauseingängen, auf Balkonen, rund um den Dorfplatz, auf dem Mauersockel der verfallenen Burg: die starken Frauen von Olympos. Vielleicht sind es die zerknautschten Schaftstiefel aus Ziegenleder, die selbst Greisinnen tragen wie Cowboy-Boots. Mit Sicherheit ist es der weise Ausdruck ihrer Gesichter. Die Lässigkeit, mit der sie sich auf eine Mauer stützen, wie sie die Beine übereinander schlagen, unhörbar flüstern, taxieren, der ruhig offene Blick.
Hochgewachsen, mit leicht arabischen Zügen, verkörpern die Olympiten einen Menschenschlag, dessen Herkunft noch weitgehend im Dunkeln liegt. Auch im Alter kein gebeugter Rücken: Wie Krähen hocken die Großmütter in tiefblauer Tracht zusammen, sinnierend, mit wachen Augen fürs Geschehen. Stolz werfen die Jüngeren die schwarzen Haare in den Nacken, flechten sich Perlen und Fäden in die Zöpfe und sehen dem Fremden dabei ins Gesicht.
Männer spielen nur eine untergeordnete Rolle, weil es in Olympos kaum noch Männer gibt. Die schlechten Verdienstmöglichkeiten und ein Erbrecht, das die Mädchen bevorzugt, haben in den letzten hundert Jahren zu einem Exodus der Stammhalter geführt. Von den 350 verbliebenen Einwohnern - um 1900 waren es noch mehr als tausend - sind fast drei Viertel weiblichen Geschlechts. Die nach Kanada, Deutschland, in die USA, den Kongo und selbst nach China ausgewanderten jungen Leute kommen an Ostern zu Besuch - oder, für immer, als Senioren mit amerikanischem Akzent. So liegt in den Kafeneions schon mal eine Herald Tribune oder Financial Times herum. Und böse Zungen behaupten, die Piste nach Pigadia habe man nur für die Angeber mit ihren Chevrolets und dicken BMWs in den Berg geschlagen.
Den Lohn der Angst um das Gedeihen der Kinder, für das Standhalten im rauen Olympos, tragen die Frauen am Lambri Triti um den Hals: Gold- und Silbermünzen aus aller Welt, Maria-Theresien-Taler und britische Sovereigns, amerikanische Coronet Double Eagles, türkische Mahmudies und Gold-Pesos aus Mexiko. Was die Vorväter in Generationen anhäuften, schmückt kiloschwer die Brust der ältesten Töchter, der Kanakares, die sich auf der Freitreppe des Kirchplatzes postieren. Als Leibwächter haben sich hinter ihnen die Mütter aufgebaut, die buntschillernden Jüngsten an der Hand oder auf dem Arm, allesamt beäugt von den weisen Alten, den angereisten Verwandten (mit Kamera) und einigen Touristen (Kamera dito), Letztere von der Festgesellschaft weitgehend ignoriert.
Eine versteckte Logistik hat die verwirrrende Pracht schließlich zu einem ordentlichen Ganzen gefügt. Das Gruppenbild aus Damen ist eben in dem Augenblick fertig, als der Pope und seine Gefolgschaft singend auf den kleinen Platz einziehen, die Ikonenträger sichtlich erschöpft, die Getreuen schweißnass, nur den Priester lässt die stechende Aprilsonne scheinbar ungerührt.
Zum Küssen der Heiligen im Holzrahmen haben sich inzwischen auch die Herren Kneipengänger auf den Platz bemüht. Sie sind die ersten beim Defilee entlang der aufgestellten Bilder, an dessen Ende ein Ouzo wartet, dazu klebrige Honigbällchen und eine Schale für das Opfergeld. Jetzt erst regt sich das Bataillon der Frauen, die geordnet vortreten und der Madonna die Kleinsten entgegenstrecken.
Der orthodoxe Teil des Lambri Triti wäre nun eigentlich beendet, bräuchte der Pope nicht noch ein bisschen Geld. Da in Griechenland keine Kirchensteuer erhoben wird, ist der Klerus gänzlich auf die Liebe seiner Nächsten angewiesen. Die schlägt ihm an Ostern verlässlich großzügig entgegen. Als ausgesprochen lukrativ hat sich dabei in Olympos eine Versteigerung erwiesen. Die Ehre, im nächsten Jahr eine Ikone tragen zu dürfen, wird von den Olympiten hoch bezahlt. Fast eine Stunde lang brüllt der Dorfbüttel die Gebote in die Menge, die zuvor dem Geistlichen übermittelt wurden, der sie seinerseits zunächst an den Bürgermeister weitergab. Für 500 Euro und mehr schleppen die Glücklichen mit dem Zuschlag die Bilder in Richtung der nahen Kirche.
Lambri Triti letzter Akt: Als habe alles nur auf das Amen des Popen nach dessen Dankesworten gewartet, stehen in Sekunden Tische und Bänke auf dem Platz, werden in Körben Dosenbier, Wein und Oliven herbeigeschafft. Ein Trio stimmt sich ein: die Tsambouna, ein Ziegenbalg als Dudelsack, Lyra, die Fiedel mit kleinen Schellen auf dem Bogen, und Lauto, die Gitarre.
Die Männer haben den ersten Tanz. Aber schnell löst sich ihr Schulterschluss. Mit einem Basilikumsträußchen hinter dem Ohr führen sie die lange Reihe der Frauen und Mädchen an. Gleichförmig bewegt sich der Kreis, der Pano Choro, Runde um Runde im kaum sich ändernden Rhythmus der Musik. Hinter den alten Windmühlen auf dem Profitis Ilias versinkt die Sonne im Meer. Angenehm warm gibt das Pflaster die Hitze des Tages zurück. Stunden vergehen in berauschender Monotonie.
Die Nacht kommt über Olympos, auf dessen schwach erleuchtetem Kirchplatz sich taumelnd die Tänzer drehen. Längst haben sie den Sprechgesang der Musiker aufgenommen und basteln ihre eigenen, frechen Sprüche in diesem großen Stegreifspiel. Der Alkohol lockert das Mundwerk und die Glieder.
Manch einer der trunkenen Männer hätte an einem solchen Abend dieses oder jenes Kanakara-Mädchen wohl gern nicht nur bei den Händen gefasst. Doch ist beim Pano Choro noch nie etwas Ungebührliches passiert. Von den Dächern und Treppen sind viele Augenpaare auf die Tänzer gerichtet. Und die Frauen von Olympos sind stark . . .